© Ulrich Sautter

Vertikale Mas de Daumas Gassac: Slowly but steady

Das legendäre Languedoc-Weingut Mas de Daumas Gassac besitzt ein Ritual: Einmal im Jahrzehnt lädt es Journalisten zu einer Vertikalverkostung seines bisherigen Schaffens. Am 20. Juni war es wieder so weit. Gelegenheit für einen spannenden Vergleich der aktuellen Verkostungseindrücke mit den Probennotizen aus dem Jahr 2014.

Die vierte Vertikalprobe der Firmengeschichte fand erstmals ohne den visionären Unternehmensgründer Aimé Guibert satt, der 2016 im Alter von 91 Jahren verstorben war. Eine kurze Rückblende: Guibert hatte keinen weinbaulichen Hintergrund, als er Mitte der 1970er Jahre das Weingut im Haut Vallée de Gassac gründete, inmitten einer Wildnis, die auch heute noch nur ansatzweise gezähmt ist. An seine Seite holte sich Guibert Berater von Rang und Namen: Émile Peynaud, Bordeaux’ führenden Önologen, den viele Winzer, die bei ihm studiert oder mit ihm gearbeitet haben, nach wie vor für unerreicht halten. Ebenfalls aus Bordeaux kam Henri Enjalbert, der hoch spezialisierte und hoch angesehene Wein-Geologe und Bodenkundler.

Das Trio aus den zwei akademischen Koryphäen und dem passionierten Praktiker Guibert pflanzte Cabernet Sauvignon in die kalk- und eisenhaltigen Gletscherablagerungen im Tal des Bachs Gassac nahe der Ortschaft Aniane. Das Grundrezept für den Grand Vin, in der Assemblage etwa 80 Prozent Cabernet und für den Rest ein halbes Dutzend andere Rebsorten zu verwenden, kam bereits im ersten Jahr 1978 zur Anwendung, und es wurde seither niemals angetastet.

Die Weine der 1980er und 1990er Jahre

Bereits zum Zeitpunkt der letzten Vertikalprobe im Februar 2014 hatten die Weine der Gründungsjahre ein stolzes Alter erreicht. Aber sie brillierten! Jahrgänge wie 1979, 1981, 1982, 1985, 1988, 1989 und 1990 überzeugten mit ihrer aromatischen Tiefe und mit nach wie vor großer Spannung. Und wie probierten sich die Weine zehn Jahre später? Da mittlerweile 47 Jahrgänge vom roten Mas de Daumas Gassac produziert wurden und das Tasting sich auf 27 Weine beschränkte, konnte der direkte Vergleich nicht bei jedem 2014 verkosteten Wein gezogen werden. Doch die Jahrgänge 1981, 1982, 1985 und 1988 zeigten: Reifer sind diese Weine heute natürlich schon, und das auch mit einer etwas größeren Streuung des Frischeeindrucks zwischen den einzelnen im Tasting in Umlauf befindlichen Flaschen – die berühmte »bottle variation«.

Doch die Muster aus den guten Flaschen schienen gegenüber der Probe von 2014 nur nuancenweise verändert – offenbar sind die Weine während der letzten zehn Jahre nur in kleinen Schritten weiter gereift. Jahrgänge wie 2010 oder 2005, die sich vor zehn Jahren noch als sehr verschlossen erwiesen, öffnen jetzt gerade erst einen Spalt breit die Türe, um einen Blick in die Schatzkammer ihres aromatischen Potenzials zu gestatten. Aus dieser langsamen Entwicklung im Lauf der letzten Dekade kann man zweifellos schließen, dass auch die reiferen Weine noch in 20 oder 30 Jahren Freude bereiten werden, die jüngeren auch entsprechend länger.

Die Ausgangsfrage, die sich Guibert, Peynaud und Enjalbert in den 1970er Jahren stellten: Ist in diesem abgelegenen Teil des Languedoc ein Cabernet-basierter Wein möglich, der das Reifevermögen eines erstklassigen Médoc besitzt? – diese Frage kann heute noch sicherer als vor zehn Jahren mit einem klaren »ja« beantwortet werden.

ZUM GANZEN TASTING

© Ulrich Sautter

Die neuen Jahrgänge

Samuel, Basile und Roman Guibert führen das Werk ihres Vaters in großer Kontinuität fort, das zeigten auch die seit 2014 produzierten Weine. Die Geschwister legen Wert auf eine etwas behutsamere Extraktion – sie streben stärker, als es ihr Vater tat, nach polierten, feinen Gerbstoffen. Und natürlich haben sich auch die Lesedaten verändert: Lag der letzte Lesetag in der Dekade zwischen 1978 und 1997 neunmal im Oktober, galt dasselbe für die Dekade 2013-2022 nur einmal (nämlich 2013). Die Geschwister sind dadurch recht erfolgreich darin, die moderaten Alkoholgehalte, für die Daumas Gassac schon immer bekannt war – ein typischer Jahrgang lag während der ersten 25 Jahrgänge zwischen 12,5 und 13 Volumenprozent –, nach Kräften beizubehalten. Seit 2008 gab es allerdings trotzdem keine »12« mehr vor dem Komma, meist liegt der Alkoholgehalt in den letzten 15 Jahren bei etwa 13,5 Volumenprozent. Der Jahrgang 2018 Jahrgang touchierte dann sogar auch die 14 Volumenprozent.

Bei allem Arbeiten an Stellschrauben: Daumas Gassac bleibt ein charaktervoller, komplett eigenständiger Wein. Die Rebflächen für den Grand Vin, gepflanzt als kleine Rebinseln in unberührte Garrigue, direkt an den Waldrand oder sogar auf Lichtungen im Wald, schaffen zusammen mit den gesteinsreichen Böden einen Fingerprint, der auch bei der Suche nach etwas mehr Souplesse nicht verwischt wird. Überdies erweist sich der Pioniergeist von Aimé Guibert und seiner Frau Véronique heute einmal mehr als visionär: Denn derzeit gilt das Thema »Agroforesterie«, also das bewusste Suchen einer Mischkultur von Reben, Bäumen und Sträuchern als ein wesentliches Zukunftskonzept zur Bewältigung des Klimawandels. Die Guiberts aber taten genau das schon vor 50 Jahren.


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Ulrich Sautter
Ulrich Sautter
Wein-Chefredakteur Deutschland
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