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Regietheater: Dauerstreit um die Werktreue

Bayreuth
Bayreuther Festspiele
Theater

In Theater und Oper wird seit 100 Jahren darum gerungen, wie stark die Regie in ein Werk eingreifen darf, um es der Gegenwart anzupassen. Während einige Verrat am Schöpfer beklagen, erkennen andere erst den eigentlichen Wert eines Stücks, wenn es sich von der Vorlage entfernt. Eine heitere Anekdote aus der Kulturwelt.

Um mich ganz auf die Musik zu konzentrieren, hatte ich die Augen geschlossen. Die Inszenierung gefiel mir nur so mittelgut. Die Premiere hatte für einen Skandal gesorgt, weil ein ehemaliger Wirtschaftsminister mitten während der Aufführung wutschnaubend den Saal verlassen hatte. Kaum hatte ich mich versehen, war ich in einen Tiefschlaf verfallen.

Die Regisseurin ist für ihre zeitkritischen Arbeiten bekannt. Das Bühnenbild hatte sie aus Abertausenden Pet-Flaschen errichten lassen. Im Programmheft stand, dass man sie aus dem Nordpazifik gefischt hatte. Sie waren gereinigt und in der westlichen Konsumwelt einer neuen Bestimmung zugeführt worden. Außerdem sei es gelungen, die uneingeschränkte Freiheit der Kunst mit den strengen Auflagen der Diversity-Beauftragten moderner Opernhäuser zu vereinen.

Beim frenetischen Jubel für den Dirigenten wurde ich schlagartig wach. Noch völlig orientierungslos versuchte ich mich aufzurichten, um mich den stehenden Ovationen anzuschließen. Nur meine Beine wollten nicht – und so purzelte ich auf den Schoß meiner Nebensitzerin Sabine. Das war sehr peinlich, schließlich hatte sie für ihre Einladung zu diesem Abend keine Kosten gescheut.

Zwischen Empörung und Erschöpfung

Nun sitzen wir zusammen mit meinem Schulfreund Daniel, einem Bauingenieur, und Sabines Mann Richard im Wintergarten ihrer Villa und sprechen über das gerade Erlebte. Ich sage, dass der Transfer in eine dystopische Welt mit Superhelden aus amerikanischen Comics schon einleuchtet. Ich kann das zwar nicht wirklich beurteilen, schließlich habe ich geschlafen, aber ich hoffe, dass ich damit durchkomme. Sabine ist empört, weil der Komponist das ihre Meinung nach nie so gemeint haben könne. »Richard«, sagt sie streng zu ihrem Mann, der höflich fragt, ob er noch eine zweite Flasche Wein öffnen soll, »ich möchte bitte nicht unterbrochen werden.«

Dann liest sie aus einem Brief vor, einer Art Protestschreiben, den sie bei anderer Gelegenheit an die Direktion des Opernhauses verfasst hatte. Ein langes Schreiben. Nach 15 bis ins letzte Detail vorgetragenen Seiten schaut Sabine erwartungsvoll in meine Richtung. Ich möchte gern noch mehr von dem guten Bordeaux, also lobe ich ihren Scharfsinn. Super geschrieben! Mein Freund Daniel sagt nur, er sei nicht vom Fach. Dann fragt er, wie man sich denn die Oper vorstellen könne, wenn sie so aufgeführt worden wäre, wie ursprünglich von ihrem Erschaffer gemeint.

 

Schiller hätte aus innerem Antrieb geschrieben, was ihm am Herzen lag, heute würde nur um der Provokation willen provoziert.

 

Sabine lacht. Unsere Sehgewohnheiten hätten sich mit der Zeit natürlich verändert. Richard pflichtet ihr bei und sieht jetzt, wo die Laune seiner Gattin wieder besser ist, eine neue Chance für den Rotwein.

Um der Provokation willen provoziert

Man möge nur einmal den Premierenbericht aus der Uraufführung von Schillers »Räubern« am Nationaltheater 1782 in Mannheim lesen, empfiehlt Richard, das Publikum sei damals vor Schock schreiend aus dem Saal gerannt. »Wie kann man das denn vergleichen?« Sabine bebt vor Wut. Verängstigt stellt Richard die ungeöffnete Flasche zurück. Schade. Es gehe bei der Werktreue-Debatte doch nicht um die Ästhetik einer Oper, sondern um den Inhalt, die Intention.

Wenn ich Sabine beipflichte, bekomme ich dann vielleicht doch etwas von dem Bordeaux? Also versuche ich mein Glück: Immerhin, das Publikum hat sich heute wie damals von der Aufführung provoziert gefühlt. Sabine müht sich um Contenance. Schiller hätte aus innerem Antrieb geschrieben, was ihm am Herzen lag, heute würde nur um der Provokation willen provoziert. Das habe seine Tradition in der Hippie-Bewegung und hätte sich schon lange totgelaufen.

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Den Bordeaux gebe ich nun auf und insistiere, dass ein Werk, das heute auf die Bühne gebracht wird, auch Treue verdient – Treue für unsere Zeit, sonst könnte man ja gleich ins Museum gehen. Unserer Gastgeberin verschlägt es die Sprache. Daniel will vermitteln. Wer denn entscheide, wie so eine Oper auszusehen habe? Ob das die Leitung des Opernhauses macht oder der Regisseur?

Entscheidungsträger

Angesichts dieser einfach klingenden Frage macht sich Richard endlich daran, die Rotweinflasche zu öffnen. Der Korken bricht. Alle schweigen. Das wird nichts mehr. Ich antworte Daniel, dass die Theaterleitung den Regisseur aussucht und damit meistens auch schon weiß, wie die Inszenierung wird – ob sie eher dem Publikum gefällt oder den Kritikern. Dann biete ich Richard an, ihm mit dem missglückten Korken von der Bordeauxflasche zu helfen. Er lehnt ab und geht eine neue aus dem Keller holen.

 

»Warum denn mich? Ich bin doch überhaupt nicht wichtig.«

 

Daniel hakt nach, ob das denn ein Widerspruch sei, Erfolg bei der Kritik und beim Publikum. Sabine antwortet bedeutungsschwer, dass Oper immer ein Widerspruch sei. Daniel wiederholt, dass er halt nichts von Oper verstehe. Ich schaue meinem alten Freund in sein neugieriges Gesicht, plötzlich will ich nur noch ihn erreichen. »Warum denn mich?«, fragt er. »Ich bin doch überhaupt nicht wichtig.«

Weil es keinen anderen Grund gibt, mein Lieber, denke ich. Wenn die Oper dich gewinnt, dann wäre endlich wieder alles gut. Richard kommt zurück. Er hat den gleichen Bordeaux nicht mehr im Keller, ob wir was anderes wollen. Sabine sagt, sie sei müde. Du, Richard, sage ich, gib mir doch mal den Korkenzieher.


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Matthias Hartmann
Autor
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