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Murmeltierjagd: Traditionelle Delikatesse oder ethisches Dilemma?

Fleisch

In wenigen Wochen beginnt in Westösterreich und Teilen der Schweiz die jährliche Murmeltierjagd. Rund um die Alpen gilt der possierliche Nager als Delikatesse. Noch einzigartiger als sein Geschmack ist allerdings die heilende Wirkung seines Fetts gegen Rheuma und allerei andere Beschwerden. Nur: Rechtfertigt das den Abschuss des Tieres?

Ich kann mich nicht erinnern, dass ich zuvor schon einmal Beschützerinstinkte für ein Lebewesen empfunden habe, ohne ihm je leibhaftig begegnet zu sein. Aber ich meine, schauen Sie sich mal diese knuffigen Pausbäckchen an. Entsprechend geschockt war ich zu erfahren, dass Murmeltiere eine authentische alpine Spezialität sein sollen. Kann doch nicht wahr sein!

Um mich zu vergewissern, tippte ich zwei Begriffe ins Suchfeld, die mir bis dato unvereinbar erschienen: »Murmeltier« und »essen«. Tatsache: In den Schweizer Kantonen Tessin und Graubünden sowie in Westösterreich steht Murmeltier als Braten bis heute auf manchen Speisekarten. Dort gibt es auch die größte Population. Seine Jagdsaison beginnt Mitte August und endet je nach Region unterschiedlich – spätestens allerdings Ende Oktober, wenn Murmeltiere ihren Winterschlaf beginnen.

Ein Murmeltier kommt selten allein

In Deutschland findet man die meisten Exemplare im Allgäu. Schießen darf man sie dort allerdings nicht, auch wenn die Ortsansässigen froh darüber wären. Ein Maulwurf im Garten muss gegen ein Alpenmurmeltier nämlich ein wahres Vergnügen sein. Denn meistens kommt ein Murmeltier nicht allein. Munggen, wie man in der Schweiz sagt, leben in Kolonien von bis zu 20 Tieren und legen ausgeklügelte unterirdische Gangsysteme an, die sie von Generation über Generation immer weiter ausbauen. Was für die Nager Sicherheit bedeutet, ist für weidende Kühe und Schafe eine Riesengefahr, weil sie sich ein ums andere Mal die Haxen brechen, wenn sie in einen der Tunnelzugänge treten.

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Egal wie intensiv ich recherchiere, abgesehen von ihrer rundwangigen Putzigkeit finde ich keinen triftigen Grund, wieso man Murmeltiere im Gegensatz zu Kaninchen und anderem Wild von ihrem Schicksal als Schmorgericht bewahren sollte. Zumal die Nager selbst nicht gerade zimperlich miteinander umgehen. Ungefähr um sein viertes Lebensjahr verlässt das Murmeltier sein Hotel Mama, um die Führung eines fremden Territoriums zu übernehmen. Dabei legt das Tier eine grausame Vorgehensweise an den Tag: Es vertreibt das fremde Alphatier und richtet unter dessen Nachwuchs ein regelrechtes Gemetzel an. Klingt so, als müsste man Murmeltiere am besten vor sich selbst schützen. Vielleicht sollte ich meine Meinung noch einmal revidieren?

Fell, Fett und viel Arbeit

Ein Anruf in Vorarlberg. Am anderen Ende der Leitung meldet sich Gustav Jantscher. Der 51-Jährige ist eine Ausnahmeerscheinung als Koch. Kompromissloser als er kann man den Geschmack der Alpen nicht auf Teller bringen. In seinem achtgängigen Wildmenü verarbeitet der gebürtige Steirer neben Auerhähnen, Rebhühnern, Hirsch, Dachs und Steinbock natürlich auch Murmeltiere – und er erlegt sie als leidenschaftlicher Jäger auch gleich noch selbst. Sofern sie ihm vor die Flinte kommen. Das sei nämlich überaus schwierig, erklärt Jantscher. Aus dem einfachen Grund, weil Murmeltiere knapp 90 Prozent ihres Lebens geschützt unter der Erde verbringen.

Bevor sie sich zum Fressen an die Oberfläche wagen, stellt jede Kolonie aus ihren Reihen einen Späher ab, der die übrigen Mitglieder vor drohender Gefahr warnt – mittels jenes schrillen Schreis, der das Markenzeichen des Murmeltiers ist. Ein Treffer in den Kopf oder den Hals erspart dem Tier einen qualvollen Tod, erklärt Jantscher, gelingt es nicht, es mit einem Schuss zu erlegen, schleppt das Murmeltier sich schwer verwundet zurück in seinen Bau, wo es langsam verwest und damit das unterirdische Refugium für den Rest der Kolonie unbewohnbar macht.

Eine wahre Sisyphusarbeit

Nicht minder kompliziert als seine Jagd gestaltet es sich, ein Murmeltier zu zerlegen. Das Parieren des Nagers gleicht Jantscher zufolge einer wahren Sisyphusarbeit. Es geht schon damit los, dass man sein Fell anders als das eines Kaninchens nicht einfach abziehen kann, sondern mühevoll herunterschneiden muss. Außerdem muss man pedantisch darauf acht geben, die vielen Drüsen des Tiers zu entfernen mittels derer es sein Revier markiert – wer das einmal vergisst, wird den grauslichen Geschmack sein Leben lang nicht mehr los.

Auch das viele Fett des Tieres ist für Menschen ungenießbar. In der Pfanne erhitzt, stinkt es bis zum Himmel nach ranzigem Öl. Aus medizinischer Sicht ist es jedoch eine regelrechte Allzweckwaffe: Ein Kilo Murmeltierfett enthält etwa 30 Milligramm natürliches Kortison, was seine große Bedeutung als Naturheilmittel erklärt. Bis heute wird Murmeltiersalbe gegen Rheuma, Muskelverspannungen, Entzündungen und Ekzeme angewendet.

Eher Gams als Hase

Selbst geübte Küchenhandwerker brauchen laut Jantscher gut anderthalb Stunden, bis sie das Tier küchenfertig hergerichtet haben. Ein Wildkaninchen dagegen zerlege er in gerade einmal fünf Minuten. Auch die Ausbeute fällt beim Murmeltier mager aus: Von dem ausgewachsen rund sieben Kilo schweren Tier bleiben nach dem Zerlegen gerade mal anderthalb Kilo übrig. Der Rest ist Fell und Fett. Einen solchen Aufwand kann man eigentlich nur in der Spitzenküche rechtfertigen.

Jetzt aber zur entscheidenden Frage: Wie schmeckt so ein Murmeltier überhaupt? Einzigartig, sagt Jantscher. Ein wenig so, als würde man in eine saftige Alm beißen: heuig, ein bisschen krautig, in jedem Fall sehr, sehr aromatisch. Eher wie Gams als nach Hase. Am häufigsten serviert Jantscher das Murmeltier als Zwischengang, zubereitet etwa zu einer Füllung für Ravioli, die er auf gedünsteten Lauchringen und einer Riesling-Schaumsauce serviert oder als Murmeltier-Brioche auf blanchierten Brennnesseln. Mmh, lecker!

Ich kann mir nicht helfen, aber irgendwie habe ich jetzt Hunger bekommen. Süß bleibt das Murmeltier natürlich trotzdem.

LEBENSMITTELKONSUM UND MORAL

Deutschland-Chefredakteur Sebastian Späth schreibt ab sofort regelmäßig über umstrittene Delikatessen und unethisch gewonnene Lebensmittel, ihren Ursprung und Alternativen – ohne erhobenen Mahnfinger, dafür mit überraschenden Hintergründen und Perspektiven.


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Sebastian Späth
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