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Eine Ode an den November

Herbst
Winter

»Das Jahr ist noch nicht um, da geht noch was«

Ja hola mi amigo, Du bist schon hier! Das ging ja rápido. Und es kam unerwartet. Wie ein seit Tagen für die Hauptstadt angekündigter Wintereinbruch. Jeder Tratsch, jede App, jeder Wetterbericht, sie alle sagen fix voraus: Es wird schneien. Dann schneit es tatsächlich und scharenweise Vehículos rutschen mit Sommerpatschen an den Felgen die Berner Brunngasshalde abwärts, hängen in der Wiener Ringstraße oder driften über den Ku’damm Berlin. Alles eben Auslegungssache: Die Schneeketten, das Salz, der Splitt, die Winterreifenpflicht seit 1. 11., Allerheiligen ist obendrein. Und natürlich Día Internacional del Unicornio. Wer Einhörner auf Friedhöfen lustwandeln sieht, weiß nun warum.

So gut siehst Du aus. Ein wenig Halloween-verkatert vielleicht, aber egal: Schönheit bleibt Schönheit. Dein dichtes Grau – magnífico. Wärst Du Helen Mirren oder der Clooney George, sie würden es lieben. Doch bei Dir nur el lamento, Gejammer: »Der Nebel! Die Finsternis! Es feuchtelt! Es friert!« Du wirst es erdulden, ich weiß; wirst zusehen, wie Gärtnereien, Supermärkte, Tankstellen prontamente jede noch so zerrupfte Christrose, Aster und Erika anbringen, Grablichter natürlich sowieso alle weg; wirst lächeln, wenn selbst das hässlichste Gesteck seinen Erdhaufen findet, auf dass kein darunter liegender Angehöriger jemals auf die Idee komme, sich seine Ruhestätte von oben anzusehen. Ja und wenn die hausgemachte Leichenblässe endlich Lavendelfelder und Nordlichter in Dein verschmähtes Grau hineinhalluziniert, wirst Du dieser elenden Mieselsucht samt der sterbenskrank raunzerten Reibeisenstimme des Tom Waits »You’re my firing squad, (mein Erschießungskommando) November« zu Leibe rücken, Deine Schleier lichten und so grenzenlos golden erstrahlen, wie ohne Lichterkette nur eben Du es kannst, oh cariño mío. Schön ist das. So schön.

Den Gänsen schwant übles

Und was wird passieren? Hombre oh Hombre, Menschen eben, Großmeister des Gschichtldruckens und der Diffamierung. Sie werden stur dagegenhalten: Allerseelen, in Mexiko Día de los Muertos (Tag der Toten), Buß- und Bettag, Totensonntag, mittendrin Sankt Martin, zeitgleich Faschingsbeginn. Trauriger geht es kaum. Selbst den Gänsen schwant: Die Bibi und der Fridolin fehlen, dazu der fette Klausi und die Rosi, irgendwie werden wir immer weniger. Und in den Gassen, Gärten, Stiegenhäusern, Wohnzimmern, Toiletten, trällern die Kinder in Dauerschleife ihr Liedchen, Tom Waits für Anfänger: »Mein Licht ist aus, ich geh nach Haus, rabimmel, rabammel, rabum!« Nein, mein Guter, da besteht kein Zweifel, Dich hat es noch viel gröber erwischt als mich. Völlig zu Unrecht. Denn Du bist der einzige von uns Zwölfen, der es ernst meint mit dem ganzen Haufen, der es noch herumreißen kann, ihr Jahr.

Im Schnelldurchlauf begonnen als Silvester-Wracks. In Woche eins brach gelegen im Living Room der Rekonvaleszenz. In Monat eins aufgetreten im Speakers’ Room der Abstinenz. Alles Helden und Märtyrer. Jeder weiß es, denn sie sagen es Dir: »Drei Tschanuari.«, »Drei wie uno, dos, tres?«, »Nein, wie der Aralsee? Drei. Trocken.« Und selbstverständlich bleibt ein Alkoholiker, der den Jänner aussetzt, um sich dann die restlichen Monate überall durchkosten zu können, ein Alkoholiker.

Ab Februar der Boomerang. Die Leber ächzt, die Laune kränkelt, die Vorfrühjahrsmüdigkeit lähmt. Doch kein Malheur, ist ja noch Zeit – und plötzlich der März vorbei. Erster April. Freudentag aller Verzweifelten. Endlich wieder für 24 Stunden jeden anderen genauso am Schmäh halten dürfen, wie sich selbst das ganze Jahr. Muchas gracias. Die Osterjause kein Energieschub. Der Frühling schon eher. Kleidung offen, Gastgärten voll, die Gläser sowieso. Zeit also für wahre Helden, nur wie klingt das schon Dry May: »Drei Mai!« Prickelnd vielleicht für Bierbrauer, Dreimaisch oder Familie Mai: „Drillinge. Genau. Drei Mai liegen da im Wagerl.“ Anfang Juni ein prophylaktischer Anfall Pflichtbewusstsein, weil baldiger Stillstand. Danach Sommerpause. Juli, August, September: Himmel. Oktober: Hölle. Monat des Umgewöhnens, der Wärme nachweinen.

Ja, und dann kommst Du: November. Du bist der eine, der endlich jene Zeit schenkt, die verloren schien. Der mit Andacht an die Arbeit geht. Der dem Brutzeln und Grillen, dem gierigen Schnellschnell das geduldige Braten entgegenhält. Der prüft und aufgießt. Mit schwerem Roten oder rauchigem Goldnen. Der mit heißen Suppen tröstet und gehaltvollen Eintöpfen nährt. Der nichts will, keinen Gewichtsverlust und keinen Hauptgewinn. Der die Langsamkeit zelebriert, und dennoch nichts anbrennen lässt. Der das Schlachten würdevoll begeht, dankbar, als Fundament des Überlebens, nicht des Todes. Der als Meister der Spät-lese seine Hand ausbreitet und flüstert: Kommt, das Jahr ist noch nicht um, es gibt noch zu ernten, es geht noch was. Wer Deine Finsternis betrauern anstatt die stillen Stunden als Geschenk zu begreifen, als Chance, darf nicht weinen, wenn ich komme mit meinem Pomp, meiner Fassade, als fleischfressende Pflanze des verstrichenen Jahres, um sie endgültig zu verschlingen. Ich sitze hier und warte, auf Deinen ersten Advent, mi amado noviembre, mi buen amigo.

Dein Dezember.


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Thomas Raab
Thomas Raab
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