Wirklich groß ist der Markt für entalkoholisierten Wein (noch) nicht. Mehr als 60 Prozent der Konsumenten sind – laut Umfragen – Frauen.

Wirklich groß ist der Markt für entalkoholisierten Wein (noch) nicht. Mehr als 60 Prozent der Konsumenten sind – laut Umfragen – Frauen.
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Auch das noch? Warum entalkoholisierter Wein so im Trend liegt

alkoholfrei
Wein

»Alkoholfreier« Wein polarisiert – zugleich wird er immer populärer. Falstaff kostete sich durch annähernd 100 Weine und Schaumweine und befragte die wichtigsten Akteure der Branche.

Seit der Mensch vor etwa 8.000 Jahren entdeckte, dass sich Trauben in ein euphorisierendes Getränk verwandeln lassen, lebt einer der größten Kulturkreise unserer Spezies mit dem Wein und seiner Wirkung. Die Kultur der Weinbereitung hat im Lauf der Jahrtausende eine enorme Tiefe und Vielschichtigkeit erlangt – und ebenso diejenige des Weingenusses.

Unterhalten wir uns etwa beim Getreide mit Leidenschaft über Sorten, Anbauweisen und Herkünfte und zelebrieren wir seinen Genuss in gleicher Weise wie den einer Flasche Wein? Sicher nicht! Die geradezu mystische Dimension des Weins wird von kaum einem anderen Nahrungs- und Genussmittel auch nur annähernd erreicht.

ZUM TASTING

Eine schwere Entscheidung

Zerstört man diesen kulturellen Wert nicht, wenn man einem Wein jene ­Substanz wieder entzieht, durch die er erst vom Saft zum Wein geworden ist? Johannes Leitz ist einer der berühmtesten Winzer des Rheingaus im Herzen des deutschen Riesling-Kosmos. Seine Rieslinge vom ­Rüdesheimer Berg finden sich Jahr für Jahr in der Spitzengruppe der prestige­reichen Region wieder – nicht von ungefähr wurde der Winzer im vergangenen Jahr von Falstaff Deutschland als »Winzer des Jahres« nominiert. Zum entalkoholisierten Wein aber besitzt der ­Spitzenwinzer eine entschiedene Position: »Dass ich angefangen habe, Weine zu ­entalkoholisieren, war eine der besten Entscheidungen ­meines Lebens.« 

Auf die Idee brachte Leitz ein norwegischer Koch, Odd Ivar Solvold. Als in Norwegen im Jahr 2015 drakonische Strafen für Alkohol am Steuer eingeführt wurden – eine Alkoholfahrt kann mit einem Bußgeld in Höhe eines Zehntels des Jahreseinkommens bestraft werden –, wandte sich der Gastronom mit der Frage an Leitz, ob er nicht alkoholfreien Wein anbieten könne. Leitz zögerte und war unsicher, ob ein solches Angebot nicht den Ruf seines Weinguts beschädigen ­könne. Doch als 2016 auch das schwedische Staatsmonopol Interesse signalisierte und eine Abnahmegarantie für eine bedeutende Anzahl an Flaschen gab, wagte der Winzer den Sprung ins kalte Wasser.

Mit Erfolg: Nur acht Jahre später hat die Produktion ein solches Volumen angenommen, dass sich im Weingut ein vierköpfiges Team ausschließlich um die entalkoholisierten Weine kümmert. In Schweden, so ­erzählt Leitz weiter, habe es den Markt kräftig angeschoben, dass das Staatsmono­pol eine Kampagne mit einem Werbefilm startete, der den entalkoholisierten ­Riesling als Begleitung zu Austern, Granny-­Smith-Apfel und Salatgurke in Szene setzte.

»Man kann entalkoholisierten Wein aber nicht eins zu eins mit normalem Wein gleichsetzen, noch weniger soll der entalko­holisierte Wein den Wein verdrängen. Aber im Vergleich zu anderen alkoholfreien Getränken kommt er dem Weingenuss am nächsten. Er ist eine echte Alternative für Menschen, die ganz auf Alkohol verzichten müssen oder wollen, sei es zum Aperitif oder auch in der Speisenbegleitung.«

Besser als Coca-Cola

Matthias Schmitt ist Önologe an der Hochschule Geisenheim und beschäftigt sich seit über 15 Jahren mit der Entalkoholisierung von Wein. »Schon einer meiner akademischen Lehrer in Frankreich warb immer dafür, das Thema Entalkoholisierung ernst zu nehmen. Er appellierte an uns angehende Önologen: ›Ihr müsst kämpfen, damit Coca-Cola wieder vom Tisch verschwindet!‹«

Gerade in den vergangenen Jahren, so Schmitt weiter, sei das Interesse an entalkoholisierten Weinen sprunghaft angestiegen, und es habe »definitiv auch einen Qualitätsschub gegeben«. Schmitt führt diesen erstens auf technische Verbesserungen zurück – beispielsweise darauf, dass sich heute durch die Verwendung von so genannten Adsorberharzen Aromastoffe rückgewinnen lassen, die zusammen mit dem Alkohol abgetrennt wurden. Zum Zweiten aber darauf, dass die Betriebe verstanden hätten, dass die für eine Entalkoholisierung vorgesehenen Grundweine anders angelegt werden müssten. »Wenn der Alkohol fehlt, ist das natürlich eine bedeutende ­sensorische Veränderung: Die Weinfülle lebt vom Alkohol, nach dem Entalkoholisieren geht die Süßeempfindung in einen negativen Bereich. Daher sind entalkoholisierte Weine ohne Restzucker kaum mit Genuss zu trinken.« 

Der Grundwein zählt

Ein zweiter wesentlicher Umstand betrifft die Tatsache, dass durch die Entalkoholisierung etwa 15 Prozent an Volumen verloren gehen. Das heißt, dass besonders die Säure in gleichem Umfang aufkonzentriert wird. »Ich empfehle daher, nur Weine zu entalkoholisieren, deren Gesamtsäure ein bis anderthalb Gramm unter dem üblichen liegt.« Außerdem, so Schmitt weiter, müsse eine Grundqualität da sein und der Wein Charakter aufweisen: »Wir hatten sogar schon entalkoholisierte Weine, die Spontinoten haben oder wo man das Holzfass rausriecht. Typizitätsmerkmale, die zeigen: Da hat sich jemand Mühe gegeben, und das ist ein spannendes Produkt.«

»Die Qualität der Grundweine ist das A und O«, sagt auch Weinhändler Frédéric Chouquet-Stringer, der im Mai 2021 die »Zenotheque« gegründet hat, eine Weinhandlung, die sich ausschließlich dem ­alkoholfreien Wein verschrieben hat. ­Chouquet-Stringer, der 17 Jahre lang für den Reifenhersteller Michelin tätig gewesen war, ehe er Weinhändler wurde, ist der festen Überzeugung, dass wir momentan erst ganz am Beginn einer Entwicklung stehen, in deren Verlauf immer weniger Wein getrunken werden wird. 

Daher engagiert er sich nicht nur als Händler für entalkoholisierten Wein, sondern ist auch als Berater aktiv. Das brachte ihn dazu, tief in die technischen Prozesse des Entalkoholisierens einzutauchen: »Es kann sein, dass das Spinning-Cone-Verfahren ein klein wenig besser ist als die Dampfdestillation«, so seine Einschätzung, »aber die entscheidenden Stellschrauben sind andere: Heute starten wir noch immer meist mit Weinen, die bereits im Keller liegen. Aber um einen guten entalkoholisierten Wein zu machen, muss man ihn von Anfang an im Weinberg planen.«

Es sei genau wie bei der Rosé- oder der Schaumweinproduktion, wo ebenfalls nur mediokre Weine entstehen, wenn man ­Trauben aus der Vorlese verwende oder Grundweine nehme, die woanders keinen Platz gefunden haben.

Die Winzer, mit denen ich zusammenarbeite, sehen den entalkoholisierten Wein anfangs oft durch die Brille von Ökonomie und Marketing. Aber wenn ich dann mit ihnen arbeite und Fragen stelle: Könnt Ihr das nicht so oder so machen? Dann merken sie plötzlich: Es geht hier ja genau wie sonst auch in erster Linie um unsere Kompetenz als Winzer!

Der Kampf ums Aroma

Der zweite ganz zentrale Hebel, so ­Chouquet-Stringer, sei die Aromarückgewinnung. Weineigene Aromen, die durch den Vorgang des Entalkoholisierens zusammen mit dem Alkohol abgetrennt wurden, wiederzugewinnen und in den Wein zurückführen zu können, das sei ein wichtiger Schritt, bei dem auch noch ­weitere technische Verbesserungen zu erwarten seien. »Das ist auch etwas ganz anderes als eine Aromatisierung mit Frucht­aromen – es handelt sich nur um Aromen, die auch vorher schon in genau diesem Wein drin waren.«

So kritisch Chouquet-Stringer das Hinzufügen fremder Aromen auch sieht, einen Schaumwein führt er dann doch im Sortiment, bei dem flüssige ­Tannine ­zugefügt wurden. »Weinrechtlich ist das eine Aromatisierung, aber in diesem Fall geht es tatsächlich vor allem um die ­Textur im Mund.« Mit einem dreistelligen Verkaufspreis zielt dieser Schaumwein ­namens »French Bloom« auf die ­Preisklasse von Prestige-Champagnern. »Hätten Sie mich vor einem Jahr gefragt, ob ich so ein Produkt ins Sortiment aufnehme, hätte ich entsetzt abgewehrt. Aber jetzt bin ich absolut fasziniert von diesem Wein.«

Manche Weintypen funktionieren in entalkoholisierter Form besser als andere – halbtrockene Rosés beispielsweise oder Weine, die Kohlensäure enthalten.
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Manche Weintypen funktionieren in entalkoholisierter Form besser als andere – halbtrockene Rosés beispielsweise oder Weine, die Kohlensäure enthalten.

Ideal Food Pairing

Wohin geht also die Reise beim entalkoholisierten Wein? Hin in die Luxusklasse unter Inkaufnahme kleinerer önologischer Korrekturen, die man beim »normalen Wein« kaum tolerieren würde? »Manche Player in Frankreich gehen aus Kostengründen zur Aromatisierung. Dabei ist auch die Frage, wen man ansprechen möchte – den Coca-Cola-Trinker oder den Weinlieb­haber? Wenn man entalkoholisierte Weine für Weintrinker macht, dann eignen sich die sogar sehr gut zum Food Pairing«, sagt Chouquet-Stringer.

Ein Beispiel: »Wir haben einen Melon de Bourgogne gemacht, also einen Muscadet, der schmeckt mit 15 Gramm Restzucker komplett trocken und passt zu Austern und Muscheln wie ein normaler Muscadet.« Das, sagt er, müsse »für uns die Richtung sein«. Und: »Ich sage den Winzern, mit ­denen ich zusammenarbeite: ›Hör auf, deinen Wein »null« oder »zero« zu nennen! Dein entalkoholisierter Wein ist hoch­wertig, und er wurde mit Liebe gemacht. Das muss die Botschaft sein.‹«


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Erschienen in
Falstaff Nr. 04/2024

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Ulrich Sautter
Ulrich Sautter
Wein-Chefredakteur Deutschland
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