(c) James Wang

Neuroästhetik: Wie beeinflusst die Umgebung unsere Gefühle?

Die Neuroästhetik beschäftigt sich seit etwas mehr als zwanzig Jahren damit, welchen Einfluss ästhetische Erfahrungen auf unser Gehirn haben. Auch in der Architektur wird daran geforscht, inwiefern Formen, Farben und Strukturen die Art und Weise, wie wir denken und fühlen, beeinflussen könnten.   

02.08.2024 - By Christina Horn

Titelbild: Design der Zugehörigkeit: Zugehörigkeit durch gemeinsame Geschichte: »Hikmah« soll die Beziehung des Körpers zur Erde widerspiegeln und durch Design ein Gemeinschaftsgefühl herstellen. www.thehikmahproject.com

Kunst und Kultur vermochten seit jeher, uns in ihren Bann zu ziehen: Schon Johann Wolfgang von Goethe war vom Anblick des Straßburger Münsters tief ergriffen. Um zu wissen, dass die »schönen Dinge des Lebens« Einfluss auf uns haben, benötigt es allerdings keinen großen Dichter – wir erleben dies täglich selbst, etwa beim Betreten vertrauter Räume, wenn wir Kunst betrachten oder rührende Musik hören. Die Neuroästhetik, ein in den 1990ern von Semir Zeki begründetes ­Forschungsfeld, belegt dies: Sie blickt auf die Vorgänge in unserem Gehirn, dessen Netzwerk aus hundert Billionen Neuronen jedes Mal aktiviert wird, wenn wir ästhetisch Ansprechendes wie Farben, Formen und Düfte wahrnehmen. Neurowissenschaftler Anjan Chatterjee erklärt: »Im Gehirn findet eine Aktivierung bestimmter domänenspezifischer Bereiche statt. Das bedeutet: Unterschiedliche Bereiche verarbeiten den Anblick von ­Architektur oder Gesichtern.« Zudem regt jede ästhetische Erfahrung das Belohnungszentrum im Gehirn an, wodurch Hormone wie Dopamin, Serotonin oder Oxytocin ausgeschüttet werden. Auch unsere Sinne, Emotionen und unser Wissen spielen eine Rolle bei der Verarbeitung von Schönheit: »Dabei kommen sowohl individuelle als auch kulturelle Unterschiede ins Spiel, also unsere Hinter­gründe, unsere persönlichen Geschichten.«

Design für die Sinne

Räume und Gebäude so zu gestalten, dass sie die menschliche Erfahrung verbessern, ist aufgrund des individuellen Schönheitsempfindens durchaus eine Herausforderung. Auch ist die Studienlage noch dünn, sodass nur anekdotische Aussagen getroffen werden können – wobei Anjan Chatterjee und seine Kolleg:innen die Forschungen stetig vorantreiben. »Wir haben herausgefunden, dass in der Architektur drei Komponenten zum ästhetischen Erlebnis beitragen: Kohärenz, Faszination und Heimeligkeit«, erzählt der Neurowissenschaftler. Es spielt also eine Rolle, wie organisiert, innovativ oder interaktiv ein Raum ist und wie stark das Gefühl der Gemütlichkeit und Verbundenheit ist. Die menschliche Vorliebe für Einheitlichkeit, Symmetrie, proportionales Design und wiederkehrende Themen, wie man sie etwa in den Fraktalen vorfindet, ist evolutionär bedingt – und soll beruhigend wirken. »Eine populäre Idee ist zudem das biophile Design, also die Integration von Elementen der Natur«, ­ergänzt Anjan Chatterjee. Denn: Menschen tendieren dazu, offene Räume und natürliche Formen positiv wahrzunehmen. Laut Studien vermitteln Pflanzen und natürliche Materialen wie Holz und Stein ein Gefühl der Ruhe. Noch befindet sich die neuroästhetische Architektur in ihren Kinderschuhen, einige Büros haben sich der Thematik dennoch bereits angenommen – darunter Heatherwick Studio. Das britische Architekturbüro ruft mit der »Humanise«-Kampagne dazu auf, die »seelenlosen Bauten« des letzten Jahrhunderts, die Stress und antisoziales Verhalten fördern, zu boykottieren und organisch-harmonische Gebäude zu schaffen, deren Form positive Emotionen hervorruft. Einen ähnlichen Zugang verfolgt die Architektin Suchi Reddy, Gründerin von Reddymade Architecture and Design, mit ihrem Leitspruch »Form follows Feeling«: Ihre multisensorischen Projekte sollen das Gemeinschaftsgefühl steigern, etwa durch öffentliche Kunst. »Unsere Umgebung ist nicht nur eine passive Kulisse. Sie hat einen aktiven Einfluss auf unser körperliches, emotionales und geistiges Wohlbefinden«, proklamiert die Künstlerin. Sogar Foster + Partners setzen auf neuroästhetische Prinzi­pien und integrieren natürliches Licht sowie nachhaltige Materialien in ihr Design, um die physische wie auch die psychische Gesundheit der Nutzer:innen zu unterstützen.

Echos der Erde: Wenn Kunst die Welt der Technik -ästhetisch zugänglich macht: Refik Anadol nutzt KI, um in seiner -Installation »Echoes of the Earth« Daten aus der Natur zu visualisieren. refikanadol.comhttp://refikanadol.com

Das Salz der Erde: Das »Salt of Palmar« setzt auf die neuroästhetischen Prinzipien von Symmetrie, Proportion sowie auf den bewussten Einsatz von Farben und natürlichen Materialien. saltresorts.com

Schritt für Schritt

Um in Zukunft mehr Daten liefern zu können, wird bereits umfassend geforscht. Neue Technologien wie mobile EEG-Headsets, Biosensoren oder AI sollen dabei helfen, Echtzeitdaten zu liefern. »Ich denke, die Leute beginnen gerade erst, sich dieser Thematik bewusster zu werden«, so Anjan Chatterjee. Bis die Neuroästhetik fixer Bestandteil des Arbeitsalltags der Branche wird, ist es noch ein langer, wenn auch spannender, Weg.

Erschienen in:

Falstaff LIVING 05/2024

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