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Myriam Ben Salah: »In Chicago hat man die Freiheit zum Risiko«

Myriam Ben Salah, Direktorin der Renaissance Society, erklärt, was die Kunstszene Chicagos ausmacht: der Reiz der Bescheidenheit, die Nähe von Kunst und Klugheit, und die Lust, etwas Einzigartiges zu erschaffen. Die 1915 gegründete Kunsthalle in Chicago ist ausschließlich der zeitgenössischen Kunst gewidmet.

04.09.2024 - By Maik Novotny

LIVING Sie sind seit 2020 Direktorin der Renaissance Society, starteten also mitten in der Pandemie. Wie waren Ihre ersten Erfahrungen in Chicago?

Myriam Ben Salah Das war sicher sehr ungewöhnlich, eine Stadt in einer Zeit kennenzulernen, in der soziale Begegnungen fast unmöglich sind. Andererseits hat es mir eine weiche Landung verschafft nach zwei intensiven Jahren in Los Angeles, und es hat kreative Projekte ermöglicht wie Renaissance TV, eine Online-Plattform für Künstler:innen, die heute ein wichtiger Baustein unseres Programms ist.

Was sind Ihre Ziele und Ambitionen für The Ren als Direktorin?

Als Institution der zeitgenössischen Kunst ist man immer einem Wachstumsdruck ausgesetzt, alles muss immer mehr und größer werden. Wir wollen da nicht unbedingt mitspielen, sondern klein bleiben, weil das mehr kuratorische Freiheit und künstlerische Ambition ermöglicht. Daher sind unsere Ziele für die nächsten Jahre: mutige und experimentelle Kunst ermöglichen, ein intimer künstler:innenbasierter Maßstab, und ein Denken in Netzwerken anstatt in Besucher:innenzahlen.

Wie positioniert sich The Ren in der Chicagoer Kunstwelt? Wie würden Sie dessen Charakter einem europäischen Gast beschreiben?

James Rondeau, der Direktor des Art Institute, nannte uns einmal eine »brüllende Maus«, was glaube ich ziemlich gut zutrifft. Wir sind klein und mächtig, und unser Programm ist viel größer als unser physischer Raum. Wir setzen auf geteilte Neugier und Dialoge, anstatt eine kulturelle Autorität zu behaupten. Das resultiert oft in mutigen Projekten und unerwarteten Begegnungen, die in anderen Institutionen nicht möglich wären.

Viele Museen und Kunstgalerien in Chicago befinden sich auf dem Areal von Universitäten, und The Ren ist eine davon. Was ist der Vorteil, wenn Kunstorte und Hochschulbildung direkte Nachbarn sind?

Es ist ziemlich toll, Studierende als unmittelbares Publikum zu haben. Sie sind lernbegierig, stellen kluge Fragen und fordern uns heraus. Auch die Künstler:innen, mit denen wir arbeiten, freuen sich über den Austausch mit Akademiker:innen, und aus nicht wenigen dieser Begegnungen entsteht eine langfristige Zusammenarbeit.

Was unterscheidet die Kunstszene Chicagos von der in anderen Metropolen der USA und der Welt?

Chicago hat eine gewisse Bescheidenheit, die ich wirklich sehr schätze, weil sie einen angenehmen Kontrast bildet zur eitlen Selbstbeschau vieler anderer Kunstszenen. Man hat hier mehr Freiheit, Risiken einzugehen. Ein Journalist beschrieb Chicago kürzlich als »Ort, wo das Ziel nicht unbedingt ist, einen Status zu erreichen und damit zu prahlen, sondern etwas Großartiges und Einzigartiges um seiner selbst willen zu erschaffen.« Das trifft auch auf die Kunstszene zu.

Welche Museen und Galerien außer natürlich The Ren würden Sie Wochenend-Besucher:innen empfehlen?

Das MCA und das Art Institute in Downtown, aber auch kleinere Art Spaces wie die Document Gallery, Mickey, Good Weather in Pilsen oder Corbett vs Dempsey – wenn Sie die Galeristen John und Jim treffen, sprechen Sie sie auf Musik an, dann können Sie etwas Schönes erleben! – und fragen Sie einfach die Leute in den Galerien nach Tipps, denn in Chicago läuft alles über persönliche -Kontakte!

Myriam Ben Salah hat tunesische Wurzeln und stammt aus Paris. Dort war sie von 2009 bis 2016 Kuratorin am Palais de Tokyo, danach war sie in der Kunstszene Los Angeles aktiv und gab mehrere Publikationen heraus. Seit 2020 ist sie Direktorin der Renaissance Society an der Universität Chicago.

(c) Nicolas Cottong

Erschienen in:

Falstaff LIVING 04/2024

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