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Architektur in Tschechien: Die Bildhauer an der Moldau

Trotz seiner kommunistischen Vergangenheit hat dieses Land nie seine visionäre Kraft, seinen Glauben an eine formbare Zukunft verloren. In den letzten Jahren sind in Prag, Brünn und Karlsbad einige atemberaubende Dokumente einer lebendigen Baukultur entstanden. Eine Rundreise durch Tschechien.

05.07.2024 - By Wojciech Czaja

Titelbild: Konzertbühne, Karlsbad: Das einstige Kaiserbad von Fellner und Helmer stand lange leer. Im Innenhof des denkmalgeschützten Hauses errichtete Petr Hájek nun eine Konzertbühne für die tschechischen Philharmoniker. Die Konstruktion ist komplett zerlegbar. hajekarchitekti.cz, cisarskelazne.cz

Wie eine wilde, pixelige Struktur aus dreidimensional gegeneinander verschobenen Wohn-würfeln, eingepackt in ein Kleid aus bronzefarbenen Aluminiumtafeln, stülpt sich das Gebäude über die Passage, dazwischen immer wieder Loggien, immer wieder schwarze Fassadenfragmente, immer wieder fünfgeschoßige Löcher, durch die der Prager Frühlingshimmel hindurchblitzt. »Die Prager Architektur zeichnet sich seit vielen Jahren durch einen üppigen, hedonistischen Hang zum Bildhauerischen aus«, sagt David Wittassek, Partner im tschechischen Architekturbüro Qarta, das seit vielen Jahren schon zu den umtriebigsten Büros im ganzen Land zählt. »Der skulpturale Ansatz findet sich im Barock, im Biedermeier, in der Gründerzeit, im Jugendstil und vor allem im Prager Kubismus, doch dann – mit der weißen, nihilistischen Moderne – ist dieser Mut irgendwie verloren gegangen. Wir wollen mit unseren Bauten an die bildhauerische Kultur dieser Stadt anknüpfen und trauen uns endlich wieder, Skulpturen zu bauen.« So wie zum Beispiel beim 170 Meter langen Wohnbau im Stadterweiterungsgebiet Karlín, einer Art Verbindungsbrücke zwischen der alten Gründerzeit und den sozialistischen Plattenbauten, die in der Nachkriegszeit entlang der Moldau errichtet wurden. Das expressionistische Wohnhaus unter dem geheimnisvollen Titel »Fragment«, errichtet vom tschechischen Immobilienentwickler Trigema, umfasst 144 vollmöblierte Mietwohnungen im hochpreisigen Segment sowie eine auffällige, 24 Meter hohe, in Fachkreisen zutiefst polarisierende Kunst-am-Bau-Arbeit des Prager Bildhauers David Černý – und zählt damit aktuell zu den meistbesuchten Architekturprojekten im böhmisch-mährischen Moldauland.

 

Busbahnhof Zvonařka, Brünn: Was tun mit einem alten, angegammelten Busbahnhof aus kommunistischen Zeiten? Die Architekten Chybik + Kristof haben das Ding revitalisiert und mit Licht, Farbe und Material in die Gegenwart zurückgeholt. chybik-kristof.com

(c) Alex Shoots Buildings

Wohnhaus »Fragment«, Prag: Der 170 Meter lange Neubau im Stadterweiterungsgebiet Karlín bietet 144 voll möblierte Mietwohnungen. Das Projekt von Qarta Architektura, 2023 fertiggestellt, zählt zu den umstrittensten Häusern an der Moldau. qarta.cz, trigema.cz

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Progressiver Geist

Tschechien zählte immer schon zu den progressivsten Architekturländern Europas. Anfang des 20. Jahrhunderts baute Ludwig Mies van der Rohe einige der bedeutendsten Architekturikonen der Welt hierher, die Villa Tugendhat hatte die erste Gegensprechanlage der Welt und die erste vollkommen im Boden versenkbare Glasfassade auf diesem Planeten. Und sogar im Kommunismus wurden die Tschechoslowaken nicht müde, in die Zukunft zu blicken und mutige, futuristische Träume zu bauen, während viele andere Ostblockländer unter der Macht Moskaus in einen vorgestrigen Historismus flüchteten. »Dieser Elan, dieser progressive Geist hat sich bis heute erhalten«, sagt Michal Krištof, der gemeinsam mit seinem Partner Ondřej Chybík das tschechische Erfolgsbüro -Chybik + Kristof mit Sitz in Brünn, Prag und einer Außenstelle in Bratislava leitet. »Nur wissen das die wenigsten, denn Tschechien ist ein recht verschlossenes, selbstgenügsames Land, das kaum den Kontakt nach außen sucht.« Allein, in den letzten Jahren ist es gelungen, sich ein wenig in Richtung Europa zu öffnen. Gerade die Projekte von Chybik + Kristof landen regelmäßig in internationalen Architektur- und Design-Blogs und -generieren dort regelmäßig die meisten Klicks. Ein solches Projekt ist beispielsweise die Sanierung des 1985 Busbahnhofs Zvonařka am südöstlichen Stadtrand von Brünn. Vor drei Jahren haben die beiden Architekten dem brutalistischen Bau, von dem täglich weit über 800 Busverbindungen in alle Himmelsrichtungen rollen, eine Frischekur verpasst – mit Licht, neuem Farbkonzept und komfortablen Warteräumen und Tickethallen, die sich wie eine weiche, amorphe Raumlandschaft unter das bestehende Betondach schieben. Aktuell planen die beiden ein 55-stöckiges Hochhaus in der Industriemetropole Ostrava – mit Faltenwurf und atemberaubender Taille.

Ostrava Tower, Ostrava: Auf einer isolierten Verkehrsinsel, umzingelt von Straßen und Gleisen, planen Chybik + Kristof dieses 55-stöckige Wohnhochhaus. In den unteren Geschoßen sind diverse Kultureinrichtungen
vorgesehen, als Krönung gibt es ein Café mit 360-Grad-Aussicht auf die Stadt. 
chybik-kristof.com

(c) Chybik Kristof

Plato Art Gallery, Ostrava: Das ehemalige Schlachthaus aus dem 19. Jahrhundert dient heute als Galerie für zeitgenössische Kunst. Die polnischen KWK Promes Architects haben riesige Drehtore aus Beton eingebaut. Das Projekt ist für den EU Mies van der Rohe Award nominiert. kwkpromes.pl, plato-ostrava.cz, miesarch.com

(c) beigestellt

Radikale Tradition

Das vielleicht radikalste Projekt der letzten Jahre steht ausgerechnet in der k. u. k. Kurstadt Karlsbad im Nordwesten des Landes. In den Innenhof des ehemaligen, längst stillgelegten Kaiserbads, errichtet 1895 von den Wiener Theaterarchitekten Fellner und Helmer, stellte der Prager Architekt Petr Hájek eine teuflisch rote Konzertbühne aus 746 vorgefertigten, miteinander verschraubten Stahlelementen hinein. Das 16 Meter hohe Theaterimplantat dient den tschechischen Philharmonikern als Konzertbühne. Der Sound ist höllisch gut, die gewagte Architektur das jüngste Aushängeschild eines frischen, radikalen, lange Zeit unterschätzten Baukulturlandes.

Vltava Philharmonic Hall, Prag: Erst kürzlich präsentiert wurden die Pläne für die neue Moldauphilharmonie  im Prager Stadtteil Holešovice (LIVING berichtete >): Aus einem internationalen Wettbewerb ging das dänische Büro BIG Bjarke Ingels Group als Sieger hervor – mit Musik im Herzen und einer öffentlich -zugäng-lichen Dachlandschaft. big.dk

(c) BIG Bjarke Ingels Group

Erschienen in:

Falstaff RESIDENCES 01/2024

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