Im Weinkeller des steirischen Natural-Pioniers Sepp Muster genießen die Weine Zeit ­ und Raum.

Im Weinkeller des steirischen Natural-Pioniers Sepp Muster genießen die Weine Zeit ­ und Raum.
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Wein des Anstoßes: Was ist eigentlich Natural Wine?

Naturwein
Vins Naturels

Natural Wine ist inzwischen fixer Bestandteil der Weinwelt, spaltet aber dennoch die Gemüter. Doch was ist Natural Wine überhaupt, und wie schmeckt er? Und ist das alles nur ein Trend? Sicher ist, dass diese Weine und ihre Produzenten die Weinbranche nachhaltig verändert haben.

Naturwein, Natural Wine, Vin Naturel: Egal, wie man diese Kategorie der Weinwelt auch nennt, sie ist und bleibt Stein des Anstoßes. Das mag am Begriff Natur liegen, der in allen gängigen Bezeichnungen dieser Weine präsent ist und durchaus Fragen aufwerfen kann. Denn was soll an Wein schon nicht natürlich sein, wenn er doch aus dem Saft von Trauben, einem völlig natürlichen Produkt, hergestellt wird? Oder besser: Was soll an den Weinen, die nicht dieser Kategorie zugeordnet werden, unnatürlich sein? 

Fakt ist, dass Wein immer ein Kultur- und niemals ein Naturprodukt ist, weil er ohne das Einwirken von uns Menschen nicht existieren würde. Weder will die Weinrebe in Reih und Glied wachsen, wie sie es in 99,9 Prozent aller Rebberge dieser Welt tut, noch will sie ihre Fruchtstände, die Trauben, nach menschlichen Vorstellungen von Ertrags- oder Qualitäts­optimierung ausbilden. Der natürliche Zweck der Trauben ist kein alkoholisches Getränk, das uns gesellige Abende beschert, sondern einzig und allein die Vermehrung der Weinrebe durch die Verbreitung der Samen in den Weinbeeren – nichts weiter. Selbst wenn Trauben zu Boden fallen, zerplatzen und der vorhandene Zucker von natürlich vorkommenden Hefen zu Alkohol vergoren wird, ist dieser nur ein kurzes Zwischenprodukt auf dem Weg zu Essig. ­

Dieser wiederum wird anschließend von Mikroorganismen zersetzt und dient als Nährstoff für Pflanzen. Wein kommt in der Natur also nicht vor. Wie aus den süßen Früchten der Weinrebe ein euphorisierendes Getränk entsteht, ist aber wohl bereits seit der Steinzeit bekannt, denn hierfür braucht es außer einem Gefäß, in dem Traubensaft aufbewahrt werden kann, nicht viel. Den Rest besorgen die Hefepilze, die unter anderem natürlich auf den Trauben vorkommen. Sie verwandeln den Zucker im Traubensaft in Alkohol und Kohlendioxid. 

So einfach kann Wein entstehen. Doch bereits in der Antike berichtete Plinius der Ältere im Rahmen seiner Naturgeschichte von Konservierungstechniken und Hilfsmitteln gegen Bitternis, Hefeschleier, Essigstich und sonstige Weinfehler. Als önologische Hilfsmittel wurden zu dieser Zeit zum Beispiel Bockshornklee und Mineralien wie Gips eingesetzt, um fehlerhafte Weine aufzubessern. 

BEST OF NATURAL WINE AUS DEM WEINGUIDE 2024/25

Rund 100 Hilfsmittel

Heute sind rund 100 Hilfsmittel zugelassen, zu denen neben Reinzuchthefen oder Enzymen auch Gelatine, Weinsäure oder etwa Tannine gehören. Mit Reinzuchthefen lässt sich nicht nur die Gärung effizient gestalten, sondern, wenn man möchte, auch das Geschmacksprofil des Weins beeinflussen. Auch Tannine und Weinsäure werden eingesetzt, um den Weingeschmack zu verbessern. Enzyme helfen unter anderem dabei, Tannine und Aromen aus den Traubenschalen besser extrahieren zu können oder die Filtrierbarkeit des Mosts zu steigern. Gelatine dient zur Klärschönung.

Viele dieser Behandlungen laufen unter dem Begriff »Schönung«, was sehr gut verdeutlicht, wozu sie gedacht sind – nämlich dazu, Weine aufzupeppen und im Extremfall aus weniger gutem trinkbaren Wein zu machen. Ein nachvollziehbares Anliegen, wenn man bedenkt, dass heute weltweit jährlich rund 25 Milliarden Liter Wein im Wert von etwa 320 Milliarden Euro konsumiert werden. Wein ist in den meisten Fällen ein industriell gefertigtes Produkt und hat wenig mit dem verklärten Bild des Winzers in Gummistiefeln mit Hund zu tun.

Einer der Ersten, die die in weiten Teilen industrialisierte Weinproduktion kritisch betrachteten, war der französische Önologe und Chemiker Jules Chauvet. Chauvet lebte und arbeitete im Beaujolais und wurde zeitlebens mit den Auswüchsen der Massenproduktion von Wein konfrontiert. In den Jahren 1945 und 1947 erlebte das Beaujolais zwei heiße Jahre, die reife, alkoholstärkere Weine hervorbrachten, die sich äußerst gut verkaufen ließen. Von diesem Erfolg angetrieben begannen die Produzenten unter anderem, dem Most Zucker zuzusetzen, um den Alkoholgehalt der Weine in die Höhe zu treiben. Ein Verfahren, das auch heute noch erlaubt ist. Schlimmster Auswuchs war laut Chauvet die Maischeerhitzung, bei der quasi im Schnellverfahren eine Maische­gärung simuliert wird. Chauvet sehnte sich nach dem Beaujolais-Wein, den er von früher kannte, nach dem »Vin de soif« der Region, also Trinkwein mit niedrigem Alkoholgehalt.

Er begann in den 1980er-Jahren, die Beaujolais-­Erzeugung umzukrempeln, und minimierte den Schwefeldioxid-Einsatz – denn mit jeder Behandlung, jeder Filtration, jedem Pumpvorgang verliert der Wein etwas von seinem Ausdruck. Ein Fakt, den sich Spitzenproduzenten auf der ganzen Welt immer mehr zu Herzen nehmen, egal, ob konventionell, biologisch, biodyna­misch oder sonst wie arbeitend. Chauvet legte den Grundstein für eine Strömung von Produzenten, die erst vor gut fünfzehn Jahren wirklich in der Weinwelt sichtbar wurde und bis heute für Furore sorgt, weil sie Verzicht übt und ihre Weine so unberührt wie möglich in die Flasche bringen möchte. 

BEST OF NATURAL WINE AUS DEM DACH-RAUM

Durch die Maischegärung von weißen Trauben entsteht Orange Wine. 
Eine Weinkategorie, die 
per se nichts mit Natural Wine zu tun hat.
© Shutterstock
Durch die Maischegärung von weißen Trauben entsteht Orange Wine. Eine Weinkategorie, die per se nichts mit Natural Wine zu tun hat.

Sensorik sorgt für Furore

Für Furore sorgt die Sensorik des Vin Naturel, der im Extremfall von Weinfehlern gekennzeichnet sein kann. Vin Naturel auf die extremen Beispiele zu reduzieren, wäre aber falsch, denn seine Bandbreite reicht heute von fehlerfreien großen Burgundern, Barolos oder Bordeaux bis hin zu freakigen Tropfen, die mit klassischem Wein wenig gemein haben. Und: Ausgeprägte Weinfehler haben auch in Natural Wines nichts zu suchen. Im Optimalfall sind Naturweine zugänglicher als ihre konventionell erzeugten Pendants, was sich in aromatischer Tiefe und hohem Trinkfluss äußert – letzteres vor allem bei Rotweinen, deren Gerbstoffe oft runder und weicher sind. Naturweine wollen getrunken werden, und zwar jetzt und nicht in zwanzig Jahren, auch wenn sie so lange reifen könnten. 

Obwohl Natural Wine nicht mehr als ein Prozent der Weinwelt ausmacht, haben es diese Weine geschafft, eine Kontroverse auszulösen, die selbst industriell produzierende Hersteller dazu gebracht hat, ihren Schwefeldioxideinsatz zu hinterfragen. Alles in allem ist die Natural-Wine-Bewegung aber nichts anders als eine der Realitäten, eine Philosophie, die heute zur Weinwelt gehört. Genauso wie biodynamisch, biologisch oder konventionell hergestellte Weine. Sie sind die Spitze einer natürlichen Gegenreaktion zu den schweren, alkoholreichen und im Keller von renommierten Weinmachern designten Weinen, die bis in die 2000er in Mode waren. Am Ende entscheidet der Konsument.

Lexikon


Natural Wine, Vin Naturel, Low-Intervention-Wein oder Naturwein sind Begriffe für Wein, der mit möglichst wenigen Eingriffen produziert wird. Dabei kann es sich um große Burgunder, Bordeaux oder freakige Tropfen handeln. Basis ist in der Regel ein naturnaher Anbau – mit oder ohne Bio-Zertifizierung, mit Einsatz biodynamischer oder noch strengerer Methoden. Im Keller wird Verzicht geübt. Weder stabilisierende Schönungen noch Reinzuchthefen oder Filtrationen werden eingesetzt, und auch das Konservierungsmittel Schwefeldioxid wird nicht oder nur in moderaten Dosen verwendet.

Der Begriff Orange Wine hingegen bezeichnet Weißweine, die mittels Maischegärung, also wie Rotweine hergestellt werden. Ein Verfahren, das schon seit Jahrtausenden angewandt wird und rein gar nichts mit Natural Wines zu tun hat, denn ein Orange Wine ist nicht automatisch ein Natural Wine. 


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Erschienen in
Falstaff Nr. 05/2024

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Dominik Vombach
Dominik Vombach
Chefredaktion Schweiz
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