Inszenierung: Wenn die Sushi- und Nigiri-Selektion im »Pink Room« serviert wird, dampft auch noch Trockeneis dazu. © Steffen Sinzinger

Inszenierung: Wenn die Sushi- und Nigiri-Selektion im »Pink Room« serviert wird, dampft auch noch Trockeneis dazu. © Steffen Sinzinger

Maximalistische Speisenpräsentation: Wie »Mehr ist mehr« den Food-Trend prägt

Im Plating auf die Produktküche fokussierte Teller, Drinks mit kleiner oder ­keiner Garnitur – zweifellos ist Minimalismus immer noch ein Trend. Doch der Gegentrend ist schon da: Maximalismus! Aufwändige Food-­Arrangements, Cocktails in teils obskuren Gefäßen und quietschbunte ­Interieurs kommen bei vielen Gästen enorm gut an. Wie funktionieren diese Erfolgskonzepte und welche Bedürfnisse erfüllen sie?

von Jan-Peter Wulf
13. August 2024

Sushi ist eigentlich ja das perfekte Food für eine zurückhaltende, ganz auf die Speise ausgerichtete Präsentation – unzählige Konzepte rund um die Welt tun genau dies. Nicht der »Pink Room« am ­Berliner Gendarmenmarkt: Vor uns steht eine riesengroße Muschel, gefüllt mit kleinen Muscheln, darauf befinden sich verschiedene Rohfischkreationen, Sträucher, Blüten und ein in diesem Ensemble verstecktes Fläschchen in Fischform, aus dem uns der freundliche Servicemitarbeiter einen Drink ins Glas gießt. Dampfendes Trockeneis lässt Nebelschwaden bilden wie bei Popstar-Auftritten in den Fern­sehshows der 1980er-Jahre. Wow.

Sind wir in einer Eventgastronomie gelandet? Ja, aber nein: Der »Pink Room« ist ein Fine-Dining-Restaurant der »Bellboy«-Group aus Tel Aviv, das japanische und levantinische Küche kombiniert. Dafür haben sich der Chefkoch der Gruppe, Paris Katsampis, und Gal Ben-Moshe vom Sterne-Restaurant »Prism« zusammen getan. Aktueller Menüpreis: 145 Euro ohne Getränke. Das Interieur sieht aber nicht aus wie ein gängiges Restaurant dieser Kategorie eingerichtet ist, ganz im Gegenteil: Man hat das Gefühl, in eine Rokoko-Fantasie auf Steroiden gebeamt worden zu sein. Die Farben des Interieurs (geschaffen von Saar Zafrir aus Amsterdam) mäandern zwischen Rosa und Orange. ­Kassettendecken werden mit abgerissenen Tapeten kombiniert. Dazu schief hängende Kitsch-Kronleuchter und im Zentrum ein Brunnen, aus dem Hunderte gelbe Badeenten quellen. Die Gäste ringsum haben an dieser Szenerie sichtlich Spaß. Eine kleine chinesische Gruppe kommt vor lauter Handyfilmerei fast nicht zum Essen, uns geht es ehrlich gesagt kaum anders.

Sensorisches Zeitalter

Das sei ganz typisch für unser »sensorisches Zeitalter«, wie Bellboy-CEO Aviran Avidan es nennt. Ein Zeitalter, in dem ständig alles dokumentiert und über soziale Medien geteilt wird. Gesucht werde nach Erlebnissen, die sich sharen lassen. Gefragt sei daher eine Hospitality, die genau dieses Bedürfnis erfüllt, und zwar möglichst mannigfaltig. »Mehr ist definitiv mehr und Einzigartigkeit ein heiliger Gral«, erklärt Avidan. Außergewöhnlichkeit erleben wollen – das gelte für das Essen, für die Teller, das Besteck, den Raum – das Gesamtpaket. Sogar fürs Klo. Hier sieht es nämlich aus wie in einem Club: ­Pastell, Pink, Discokugeln und »Careless Whisper« von George Michael in Dauerschleife – auf Instagram kann man sich ­Dutzende von Selfie-Clips aus dem Sanitärbereich anschauen, den sich der »Pink Room« mit der »Bellboy Bar« nebenan teilt.

Dort stehen Cocktails im Fokus und werden noch außergewöhnlicher inszeniert als im Restaurant. Sie werden in speziell angefertigten Behältnissen, etwa in zu Ballkleidern oder Backenzähnen geformten Bechern, Hörnern oder Badewannen, aus denen es schäumt, an die Tische gebracht. Unser Drink ist eine wahre Provokation: Er heißt »A Lesson in Fisting« und kommt in einem dicken, roten Keramik-Handschuh, der zur Faust geballt ist, daher. Auch die Mixtur hat es in sich: weißer Rum, Calvados, Birnenlikör, Falernum, Ananas und Absinth. Garnitur: Minze, Orangenrad und ein Kondom. Die Gäste am Nebentisch gucken amüsiert herüber. Ein Freizeitpark für Erwachsene.

Spaß und Eskapismus

Im Nikolaiviertel gleich unter dem Fernsehturm hat Arnd Heißen Anfang 2024 das »Bird’s Nest« eröffnet, eingebettet in das dort schon länger existierende vietnamesische Restaurant »Ngon«. Das Dach der Bar ist stilecht südostasiatisch aus Holz und Pfannen gefertigt, und bei den Cocktails lässt der Gastgeber und Mixologe, vom Falstaff als »innovativster Bartender 2020« ausgezeichnet, es krachen. Genauer: brennen und dampfen. Der »Fuego Futuro«, gemixt mit Mezcal, Wermut, Mate und Pinienlikör, wird mit weißem Salbei gereicht. Der wird angezündet und lodert, bis er mit einer imposanten Abaloneschale abgedeckt wird. Ein betörender Duft erfüllt den Raum und umgarnt den hocharomatischen Drink. Andere Kreationen werden in den voluminösen Schnäbeln von Vogelfiguren, Metallbechern oder putzigen Vogelhäuschen serviert.

Inspiriert vom Parfum »Valkyrie«: Der ­»Pelikan« von Sylvaine Delacourte wird im »Bird’s Nest« mit Rum, Bergamotte-Vanille-Geist, mexikanischer Limette, Minze und Sandelholz gemixt. © Yvess Sucksdorf
Inspiriert vom Parfum »Valkyrie«: Der ­»Pelikan« von Sylvaine Delacourte wird im »Bird’s Nest« mit Rum, Bergamotte-Vanille-Geist, mexikanischer Limette, Minze und Sandelholz gemixt. © Yvess Sucksdorf

Wozu diese pompöse Inszenierung? Eine Ablenkung von der Güte der Getränke – man denke an klebrig-süße Sirupdrinks der Fancy-Ära, bei denen meist nur die Obstgarnituren goutierbar waren – kann es kaum sein. Heißens Kreationen sind hier so hochqualitativ wie zu seinen Zeiten im »The Curtain Club« und dem »Fragrances« im Berliner »Ritz-Carlton«. Heißen erklärt es uns: «In der jetzigen Situation wünschen sich die meisten Gäste Spaß.« Aber nicht wie in der sogenannten Spaßgesellschaft der 1990er-Jahre, als sich globale Konflikte aufzulösen schienen. Ganz im Gegenteil. Heißen: »Wir haben so viele negative Einflüsse um uns herum. Die Bar ist ein sozialer Ort, zu dem die Menschen aus ihrem Alltag fliehen können. Sie brauchen einen Ausgleich, wollen etwas erleben und sind uns sehr dankbar dafür.«

Eskapismus ist das Stichwort: In Zeiten wie diesen, voller Sorgen, Krisen, Preisschocks und Kriege, zieht (und zog es die Menschen schon immer) an Orte, an denen die »Realität« draußen bleibt, quasi an der Garderobe abgeben wird. Gastronomie ist ideal dafür, und umso mehr, wenn sie die Menschen in eine eigene Welt einlädt, auf eine kleine Reise für die Länge eines Abends. »Unser Ziel war es, die Gäste so weit wie möglich von der Außenwelt zu trennen und sie in unsere Fantasie eintauchen zu lassen«, so Aviran Avidan über den »Pink Room«.

Alle Regler hoch

Sicher: Diese Aufgabe haben »dritte Orte« wie Restaurants, Cafés oder Bars schon immer erfüllt. Doch der Anspruch an ihre sensorische Leistung steigt: Geschmack, Optik, Haptik, Geruch, Klang – alle Regler bitte ein Stück weiter hoch, lautet die Devise. Wie weit man hier gehen kann, lotet zurzeit die wohl kleinste Bar der Stadt aus, das Pop-up »The Storage« im Lagerkeller der Cocktailbar »The Wash« in der Brunnenstraße: Den Gästen, die sich einen exklusiven Slot buchen, serviert man giftig-grün leuchtende Gin-Sour-Varianten (Ribovlavin sorgt für den grellen Look), dampfende Mezcal-Drinks oder einen Martini, der mit destilliertem Wasser unter Null Grad aufgegossen wird. Im Glas erstarrt das Wasser sofort wie ein Stalagmit und umschließt die Olive.

Effektvolle Inszenierungen einer Art, mit denen auch die britische Kette »The Alchemist« arbeitet: Rauch, Feuer, Dampf, blubbernde und die Farbe wechselnde Flüssigkeiten oder essbare Trinkgefäße faszinieren das Publikum, jetzt auch am Potsdamer Platz, dem ersten Outlet auf dem europäischen Festland. „Der Gast geht heute nicht mehr nur zum Trinken in die Bar. Du musst ihm ein größeres Erlebnis bieten. Eine Zeitlang war alles sehr minimalistisch bis hin zu gar keinem Garnish. Heute musst du dir mehr Gedanken über die Präsentation machen“, erklärt uns Dustin Render, Betreiber des »The Wash« sowie der Bars »Pawn Dot Com« und »Sharlie Cheen«. Eine Entwicklung, die in seinem »flüssigen« Metier parallel zur Restauration verlaufe: »Was vor ein paar Jahren nur im Fine Dining Standard in Sachen Präsentation war, siehst du jetzt auch in einem guten Mittelklasse-Restaurant.«

Ein Restaurant wie ein Spaghettieis

Zum Beispiel ein paar Minuten die Straße vom »The Wash« hinab, im »Coccodrillo« am Weinbergspark. Das Berliner Outlet der Restaurantkette »Big Squadra« (deutscher Ableger der »Big Mamma Group«) ist schon am frühen Abend rappelvoll und regelmäßig ausgebucht. Die italienische Küche ist nicht der alleinige Grund dafür in einer Stadt mit Hunderten italienischen Restaurants. Es ist auch das opu­­lente Interieur, rotweiß wie ein Spaghetti­eis.

Auch das Hamburger Objekt der Gruppe »Edmondo« mit überdimensionalem Spirituosen-Backbord und das Münchener »Giorgia« mit seinen Blumentapeten, Spiegeldecken und einem Sanitärbereich, der eigentlich eine Disco­kugel ist, sorgen für Furore. Diese neue Opulenz scheint ganz den Geschmack der Zeit zu treffen. Wie lange dieser Trend anhalten wird? Wir wissen es nicht. Doch wenn wir das Bedürfnis nach Erlebnis und Eskapismus auch als Reaktion auf die Realität unserer Gegenwart verstehen, dann hat der Trend seinen Zenit wohl noch lange nicht erreicht.

Erschienen in

Falstaff Profi Magazin

Mai/Jun. 2024

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